Reinhard Mey -Bonn, Telekom Dome (6.10.2017)

Es gibt nur wenige Musiker, die mich schon so lange begleiten, wie Reinhard Mey … Sekunde… es gibt keinen sonst. Seit frühester Kindheit verbinde ich Momente meines Lebens immer wieder mit der Musik des großen deutschen Liedermachers.

Mal finde ich ihn dabei geistreich und witzig, mal ehrlich und ungeheuer weise, mal spießig und stereotyp. Mal ist er mir Vorbild und mal Guilty Pleasure. Seine Fähigkeit zu beobachten aber ist beispiellos. Ebenso, wie die Fähigkeit diese Beobachtungen in Geschichten zu bündeln. Geschichten, die schon beim ersten Zuhören die lebendigsten Bilder erzeugen und die gekleidet sind in eine Sprache, die einzigartig ist in der deutschen Musiklandschaft. Reinhard Mey textet, spricht und singt – je nach Thema und Intention – einfühlsam, messerscharf, schwelgerisch, hemdsärmelig und immer auf den Punkt. Im klassischen Sinne eines Chansons sind Reinhard Meys Lieder in Melodie gegossene Poesie.

So bedarf es auch an diesem Freitagabend in Bonn nicht viel mehr als eines Mikrofons, einer Gitarre und eben dieses Reinhard Meys, um ihn vom ersten Ton an mehrere tausend Menschen in seinen Geschichten gefangen nehmen zu lassen. Keine Licht-Show, keine Effekte, keine Videos. Dazu gäbe es ja nicht mal eine Leinwand. Und weil der Bitte, die Intimität des Abends nicht mit Fotografieren oder Filmen zu zerstören, durchgehend Folge geleistet wird, denkt jeder der Anwesenden an diesem Abend: Es gibt hier nur ihn – und er singt nur für mich. 

Reinhard Meys Gitarre auf der Bühne des Telekom Domes

Der Berliner präsentiert heute vor allem sein aktuelles Album „Mr. Lee“. Ein Album, das, bei allem Positivismus des Sängers, mehr denn je den Blick auch auf die dunkle Seite des Lebens lenkt und zeigt, dass vielleicht doch nicht immer alles gut wird. Von dessen 15 Stücken spielt er alleine zehn. Meine Wunsch-Setlist hätte anders ausgesehen, aber das wusste ich vorher…

In frühen Kindheitserinnerungen liege ich bei langen Autofahrten spielend auf der Rückbank unseres Toyota Corolla und höre diesem singenden Geschichtenerzähler zu, dessen Lieder aus den Hecklautsprechern zu mir dringen. Heute weiss ich, dass es sich dabei vorrangig um die beiden Alben „Ankomme Freitag den 13.“ (1969) und „Ikarus“ (1975) handelte. Unzählige Male habe ich mich über den aufgescheuchten Protagonisten und seinen „kriminellen Dackel“ in „Ankomme Freitag den 13.“, oder über den tollpatschigen Fotografen bei der „Homestory“ amüsiert. Ich hörte immer wieder gebannt, wie es sich in der Mey-Version mit „Kaspar“ (Hauser) zugetragen hatte und war auch als kleiner Junge schon erschüttert vom Schicksal des „Atze Lehmann“. Die Weitsicht und Tiefgründigkeit von Titeln wie „Manchmal, da fallen mir Bilder ein“, „Heimkehr“ oder „Mein guter alter Balthasar“ erschlossen sich mir in Gänze natürlich erst Jahre und Jahrzehnte später – doch auch diese Lieder erschufen damals schon bunte (und manchmal nicht ganz so bunte) Bilder vor dem inneren Auge des kleinen Jungen, der ich war. 

All diese Titel werden – und das verwundert nicht – hier und heute keine Rolle spielen. Viel mehr verwundert dagegen ein ums andere Mal, wie zweitrangig die Titelauswahl bei einem Reinhard-Mey-Konzert letztendlich ist. Das liegt natürlich zum einen an der hohen Qualitätsdichte seines Œuvres, nicht zuletzt aber auch daran, dass Mey es versteht, den Zuhörer abzuholen und jedes Lied in einen Gesamtkontext zu betten. Er spricht viel, vor und nach den Stücken. Und diese Randnotizen und vermeintlichen Plaudereien aus dem Nähkästchen sind zum einen gelungen vorgetragen und zum anderen durchaus gehaltvoll. Diesem Umstand ist es dann aber auch zu verdanken, dass nach einer Stunde und zum ersten Pausengong (sic!) „erst“ neun Titel auf meinem Notizzettel stehen.

Zu den gefühlt wenigen Stücken dieses Abends (letztendlich sind es mehr als die Hälfte), die nicht von „Mr. Lee“ stammen, zählen glücklicherweise doch gleich eine Handvoll meiner Lieblingslieder. So zum Beispiel „Jahreszeiten“ vom gleichnamigen Album (1986), welches meine zweite intensivere Mey-Phase eingeläutet hatte…

Frisch ins Berufsleben gestartet, fällt mir eine LP des zwischenzeitlich fast schon in Vergessenheit geratenen Reinhard Mey in der Plattensammlung einer Freundin in die Hände (der Freundin, mit der ich weitere 20 Jahre später das Konzert besuche, um das es in diesem Artikel eigentlich geht). Das Album „Jahreszeiten“ hat zu diesem Zeitpunkt selbst schon etliche Jahre auf dem Buckel, und auch wenn ich zunächst keine Meylensteine darauf entdecke, nehmen mich die vertraute Stimme, das Gitarrenspiel und die Textzeilen eines jeden Stücks gleich wieder so herzlich in die Arme, dass es problemlos und innerhalb kürzester Zeit seinen Platz in meiner damaligen Heavy Rotation findet – um mir 1997 neben „Nimrod“, „Making Friends“ und „The Gray Race“ den Weg zum verhassten ersten Job zu erleichtern.

Ich lebe seit langem schon mit der Irritation oder Empörung mancher Mitmenschen darüber, dass ich, der ich doch musikalisch angeblich in ganz anderen Gefilden zuhause (gewesen) sein will, Reinhard Mey, über etwaige Kindheitserinnerung hinaus, gut finde, und  – womöglich schlimmer noch – allen Ernstes höre! Doch wo ist hier der Widerspruch? Geht es nicht auch und besonders im heiligen Underground vor allem um Eigenständigkeit, Haltung und Aussage? Um eine klare, unbeeinflusste Art der Meinungsäußerung – gesellschaftlich, politisch und persönlich? Leider werden diese – die eigentlichen – Vorzüge Meys manchmal gar nicht wahrgenommen. Sie werden ausgebremst von einer „Über den Wolken“-Ignoranz, von teils schaurigen Arrangements (was nur für die Platten gilt, denn auf der Bühne gibt es ja nur Reinhard und seine Gitarre), oder sie bleiben hinter belächeltem Gutmenschentum und einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit seiner Stücke verborgen, die zu durchdringen es eben manchmal mehr bedarf, als das Zuhören beim Refrain. Ein gutes Beispiel der unmissverständlicheren Art liefert Mey am heutigen Abend, mit dem 20 Jahre alten Stück „Sei wachsam!“ – ursprünglich zu finden auf der CD „Leuchtfeuer“ (1996).

Um kurz vor Acht hatte ich noch allwissend meine „Egal was er spielt, es wird gut!“-Theorie damit bekräftigt, dass einem ja im Zweifel Lieder begegnen, die man vorher nicht kennt, die man aber anschließend auch nicht mehr vergisst. So ging es mir an diesem Abend mit dem recht früh vorgetragenen „51er Kapitän“ („Immer weiter“, 1994). Das Lied thematisiert, wie so viele andere Mey-Titel auch, die Beziehung zu seinen Eltern, hier genauer: die zu seinem Vater. Der Opel Kapitän ist dabei das Bildnis für unerfüllte Wünsche und Ziele im Leben. Mein Sitznachbar scheint das Lied, im Gegensatz zu mir, nicht zum ersten Mal zu hören, nimmt mit den ersten drei Akkorden seine Frau in den Arm und ist am Ende vielleicht froh um die Taschentücher, die sie eingepackt hat. Und ich gestehe: Auch mir fällt das Schlucken plötzlich schwerer, als noch kurz zuvor. 

Reinhard Meys oft sentimentale Texte und die von beiden Seiten gewollten „Halszuschnürer“ sind Fluch und Segen zugleich. Mein jazzverliebter Chef erklärte mir und sich meine Vorliebe für Mey einmal, indem er entschlüsselte, dass Reinhard Mey mein unterdrücktes Bedürfnis nach Kitsch stille. Und ja, damit lag er vielleicht gar nicht so falsch, denn natürlich hat Reinhard Mey einen Hang zum Kitsch. Manchmal ist Mey in puncto Pathos und Arrangements auf den ersten Blick sogar nur eine Handbreit vom Schlager entfernt. Sieht und hört man genauer hin – oder länger zu – erschließt sich aber schnell, dass da niemand taktiert, kalkuliert oder simuliert. Und wenn hier jedes einzelne Wort sorgsam abgewogen und mit Bedacht platziert wurde, dann immer im Dienst der Sache – die Geschichte nämlich, und sei sie fiktiv, so echt wie möglich zu erzählen.

Ich habe oft gelesen, dass Mey am besten ist, wenn er die Dinge von außen betrachtet. Dem widerspreche ich! Er ist dann am besten, wenn er und der Zuhörer die Erlebnisse und Erfahrungen tatsächlich teilen. Neben all seinen Hits, Chansons und politischen Statements entfachen daher vor allem die Lieder über die Beziehung zu seinen Eltern und zu seinen Kindern die größte Strahlkraft. Da wundert es nicht, dass das famose „Zeugnistag“ („Keine ruhige Minute“, 1979) heute das Herzstück des zweiten Konzertteils bildet.

Ich weiß nicht mehr, wer uns zur Geburt unseres Sohnes 2007 die Kinder-Eltern-Konzept-Compilation „Apfelbäumchen“ (1989) schenkte, die ebenfalls „Zeugnistag“ enthält, und damit meine dritte und bislang letzte (weil anhaltende) Mey-Phase heraufbeschwor. Ergriffen vom Pathos und all den Wahrheiten, die da aus jeder Zeile sprossen, habe ich jedenfalls – dem KlingKlang auf der Bonner Friedrichstrasse sei Dank! – die ersten zwölf Alben, seine Biografie sowie die DVD „Klaar Kiming“ (2003) verschlungen… und die weiteren fünfzehn (!) Alben peu a peu aufgearbeitet. Das „Apfelbäumchen“ blieb währenddessen das passende Geschenk für alle Neu-Eltern im Freundeskreis und auch wenn sich mein Enthusiasmus für den Künstler nicht gleich auf alle Eltern übertrug, so schuf es doch allenthalben Identifikation. Am ergreifendsten war für mich die (True!) Story eines Kollegen, der beim ersten Hören im Auto, kurz nach der Geburt seiner Zwillinge, an den Seitenstreifen fahren musste, um „… Rotz und Wasser zu heulen.“

Hier dockt auch „Viertel vor Sieben“ („Flaschenpost“, 1998) an. Der Song, der mir beim ersten Hören wohl von allen am meisten den vielzitierten Boden unter den Füßen wegzog, eröffnet bei schon hellerleuchtetem Saal die Zugabe. Besser kann es nicht werden, denke ich. Viel zu viel von all dem, was ich an Reinhard Mey schätze, ist in diesen Zeilen verborgen. Und so sind das folgende „In der Uckermark“ (unveröffentlicht) und das ebenso schöne wie unvermeidliche „Gute Nacht, Freunde“ („Mein Achtel Lorbeerblatt“, 1972) als Kehraus für mich dann auch eher schmückendes Beiwerk. Worum es dem Künstler hingegen beim „Nicht-Fotografieren-Apell“ zu Beginn gegangen war, zeigt mir seine Aufforderung, beim letzten Lied zu „…fotografieren und filmen, was das Zeug hält!“ Es drehte sich zu Beginn also nichts um Eitelkeiten, sondern um die Konzentration auf das Wesentliche. In Sekunden ist der gesamte Innenraum nun bis zum Rand der Bühne mit Hobby-Fotografen dicht gefüllt.

Auf dem Heimweg denke ich nach, über Reinhard Mey, meine Verbindungen zu ihm und meine Erwartungen an den Abend. Trotz vieler vermeintlicher Unstimmigkeiten (…ein Konzert im Sitzen? … mit Pause!?…und Gong?! …noch dazu eines, bei dem ich plötzlich wieder den Altersschnitt senke, statt ihn zu heben! …und: Viel zu viele „neue“ Lieder…) bin ich froh, um die Erkenntnis, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Heute und grundsätzlich. Reinhard Mey ist ein – im wahrsten Sinne des Wortes – ehrenwerter Künstler! Die in 50 Jahren Bühnenerfahrung entstandene Routine bemerkt man nicht. Er hängt an jedem Moment des Abends, wie jeder einzelne in seinem Publikum. Gleich nach dem ersten Stück „Spielmann“ („Dann mach’s gut!“, 2013) bedankt er sich dafür, dass er „…auch in diesem Jahr hier oben stehen darf. Das verdanke ich seit vielen, vielen Jahren Euch! Und es erfüllt mich Jahr für Jahr mit Dankbarkeit und Demut!“ Die Halle tobt. Ich klatsche nicht, aber ich bin glücklich, heute auf der guten Seite zu stehen.

Tracklist:
Spielmann
So viele Sommer
Mairegen
Heimweh nach Berlin
Hörst du, wie die Gläser klingen
51er Kapitän
Serafina
Im Goldenen Hahn
Sei wachsam
Wenn Hannah lacht
Lucky Laschinski
Herr Fellmann, Bonsai und ich
Wenn’s Wackersteine auf dich regnet
Zeugnistag
Dr. Brand
Drei Jahre und ein Tag
Über den Wolken
What a Lucky Man You Are
Mr. Lee
Encore:
Viertel vor Sieben
In der Uckermark
Gute Nacht, Freunde