Kolossale Jugend – Heile Heile Boches / Leopard II / Fundstücke

Kolossale Jugend war eine im Jahr 1988 in Hamburg gegründete und bereits 1991 wieder aufgelöste Band. Sozusagen als Erstklässler bestellten sie damals mit Gruppen wie Die Regierung und Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs das musikalische Feld für intelligenten Indierock mit deutschsprachigen Texten, dessen Früchte später dann Die Sterne, Blumfeld und Tocotronic als Absolventen der mittlerweile so bezeichneten Hamburger Schule ernteten. Zum Todestag von Texter und Sänger Kristof Schreuf, der im Alter von 59 Jahren überraschend im November 2022 verstarb, hat das Label Tapete Records aus der Hansestadt nun in einem Triple-Vinyl-Boxset die beiden einzigen Studioalben von Kolossale Jugend wiederveröffentlicht, deren unbändige Kraft selbst mehr als drei Jahrzehnte später mit voller Wucht einschlägt.

Foto: Thomas Hinz

Ihre erste LP „Heile Heile Boches“ erschien im Jahr 1989, ihre zweite und gleichzeitig letzte „Leopard II“ 1990. Beide Longplayer wurden beim damals frisch gegründeten Label L’age d’or veröffentlicht. „Fundstücke“, die dritte Platte des Boxsets, enthält Raritäten wie Sampler-Tracks, Single-Mixes und eine bislang unveröffentlichte Live-Show aus September 1989. Benannt hat sich die Kolossale Jugend übrigens nach „Colossal Youth“, dem einzigen Album der einflussreichen walisischen Post-Punk-Band Young Marble Giants. Inspiriert von eben diesem Post-Punk erinnert der treibende, rastlose Beat von Schlagzeuger Christoph Leich, Bassist Klaus Meinhardt und Gitarrist Pascal Fuhlbrügge an Joy Division sowie die frühen The Cure. Und über diesen energiegeladenen Sound ruft die eindringliche Stimme Kristof Schreufs parolenhaft anmutende und bis zur vermeintlichen Willkürlichkeit geschredderte Sätze aus, die sich tief in Herz und Hirn ihrer Hörerschaft eingraben.

„Das und den genannt. Bekomme Hälften, Reste, Falsches.“ / „Mein Name, eine Silbe, Blut kalt, Zunge kauen.“ / „Schmück die Wohnung in meinem Kopf.“ / „Draußen vor der Tür Bitterwald.“. Verstümmelte Schreuf’sche Songtexte wie diese veranlassten Band-Kritiker gar zu der Ansicht, dass sie eher überhaupt keinen Sinn ergäben. Mitnichten, wie der Verfasser dieser Review-Zeilen meint. Mag sein, dass sie auf den ersten Blick mitunter unverständlich oder zufällig erscheinen. Doch schreien diese übrig gebliebenen Satzfragmente förmlich nach freigeistigen intuitiven Assoziationen, um sie weiterzuführen oder auch an gänzlich neue Orte zu bringen. Puzzle-Poesie pur. So hatte das zumindest in der Musik ansonsten noch niemand getan. Kolossale Jugend waren ihrer Zeit voraus – vermutlich ist das der Grund dafür, dass Band und ihrem Werk die gebührende Anerkennung und Popularität verwehrt geblieben sind.

Vielleicht hätte sie dafür an der einen oder anderen Stelle schlichtweg simpler oder unmissverständlicher sein müssen. Dass die Kolossale Jugend auch diese Fähigkeit besaß, stellte sie unter anderem im Sommer 1990 nachdrücklich unter Beweis: Als hierzulande in der Gemengelage von Wiedervereinigung und Gewinn des Weltfußballturniers im italienischen Rom die Stimmung in Teilen emotional zu überhitzen drohte, brachte die Band T-Shirts mit dem plakativen Aufruf „Halt’s Maul Deutschland“ unters euphorisierte Volk. Haltung bleibt der Hamburger Schule bis heute eines ihrer wichtigsten Anliegen.

Nimmt man all das zusammen, war der Re-Release eines Band-Katalogs selten so überfällig wie dieser. Und wir haben seine Besprechung nicht ganz zufällig als redaktionellen Magazin-Auftakt fürs neue Jahr ausgewählt beziehungsweise dorthin gelegt: Soll er uns doch einmal mehr daran erinnern, was relevante Popularmusik auszeichnet: Sie ist fordernd, unterhaltsam, aufsässig, mahnend und erzählt Geschichten, die uns berühren. In diesem Sinne, liebe Crazewire-Community: auf ein inspirierendes Musikjahr 2024. (Text: Sven Klein)

Band: Kolossale Jugend
Album: Heile Heile Boches / Leopard II / Fundstücke
Info: Auf 300 Exemplare limitiertes Triple-Vinyl-Boxset
VÖ: 03.11.2023
Label: Tapete Records