The Cure – Live in Köln (10.11.2016)

Zweiunddreißig Jahre mussten vergehen, zwischen dem Kauf meines ersten The Cure-Albums und dem Moment, in dem Robert Smith, Simon Gallup und ich sich endlich im selben Raum befinden. Ob es für die beiden so schön war wie für mich, dass kann ich nur hoffen. Vielleicht haben sie mich aber auch gar nicht bemerkt, denn es war ein wirklich großer Raum mit Siebzehntausend Menschen. The Cure live in der Lanxess Arena zu Köln.
Besagtes Album war „Boys Don’t Cry“, das Debüt der Band von Neunundsiebzig, welches in Deutschland mit leicht abgewandelter Trackinglist unter dem Namen „Three Imaginary Boys“ verkauft wurde. Ich hatte Vierundachtzig nicht einmal auch nur eine Note von The Cure gehört. Die Freunde meines fünf Jahre älteren Bruders, sie duldeten mich, hingen gemeinsam vorm C64 ab, bläuten mir wiederholt ein, was für furchtbare Musik diese geschminkte Heulboje von der Insel produzierte. Einer warnte mich sogar eindringlich, dass alljene, die The Cure oder Kate Bush hören, irgendwie seltsam drauf sind. Und wer will schon seltsam drauf sein? Dann kam jener Tag. Ich halte das Cover mit dem großen Runden „Nice Price“-Aufkleber und dem bunten Scherenschnitt einer Wüstenlandschaft im Plattenladen in Händen und entscheide mich, ab jetzt für immer seltsam drauf zu sein.
Vielleicht war mir trotz meiner zarten zehn Jahre klar, dass die Freunde meines Bruders – allesamt nette Kerle – mit ihren Mixtapes im Kadett, voll mit Rick Astley und Jason Donovan, irgendetwas verpassten. Vielleicht kaufte ich das Album aber auch nur, weil es für zehn Mark verschleudert wurde. Fakt ist, The Cure sollten mich ab da bis heute begleiten. Unter den Post-Rock Bands sind sie mindestens so herausragend wie die Beatles im gesamten Popkosmos. Unter den Gothics – wer weiß, ob die schwarze Szene in ihrer heutigen Form ohne The Cure überhaupt existieren würde – der schillernste Diamant. Robert Smith ist ein Genie auf ganzer Linie. Simon Gallup, nicht der einzige Bassist der Band, aber jener, der sich für mich am ehesten wie ein Original anfühlt, prägte mein Bassspiel für Jahrzehnte.
Mein Handy zeigt 20.37h, als The Cure die Bühne betreten. Die Vorband versäumte ich, verloren im Raucherbereich in einem netten Gespräch über „The Walking Dead“. Robert Smith ist aktuell mopsig, zieht sich aber geschickt an und wirkt agil. Simon Gallup sieht fantastisch aus wie immer. Drahtig im Muskelshirt, beeindruckend modellierte Tollenfrisur und in den folgenden zweieinhalb Stunden der einzige sich bewegende Aspekt auf der Bühne. Vorab, The Cure sind von der ersten bis zur letzten Minute fantastisch. Die Wucht, mit der sie einen Potpourri ihres Schaffens herausschmettern, für mich so überraschend wie atemberaubend. Angemessen rockig, ohne ausufernde Improvisationen, erlebt das Kölner Publikum eine Band, die abliefert. Smith verzichtet auf große Reden oder gar Publikumsmotivationen. Muss er auch gar nicht. Die Menge weiß auch so, wie man den Bassgroove von „A Forest“ mitklatscht. Spielt Smith mal nicht Gitarre, vollführt er marionettenhafte Bewegungen mit den Armen.
Das er den Gesang mancher Songs varriiert, sie tiefer singt oder die Phrasierung verändert, möchte ich keiner mangelnden Ausdauer zuordnen. Nach vierzig Jahren Bandgeschichte muss vielleicht der Routine ein Schnäppchen geschlagen werden. Den Bühnenhintergrund zieren Leinwände, auf welchen den Songs entsprechende bewegte Bilder gezeigt werden. Zum überraschenden Opener „Tape“, sind das Hypnosespiralen. Die kommenden knapp über dreißig Songs, eine gelungene Mischung aus Raritäten („Push“, „A Night Like This“, „Burn“) und den großen Hits („Lullaby“, „Friday I’m In Love“, „Boys Don’t Cry“). Wenn ich im Kino Schwierigkeiten habe, die richtige Sitzposition zu finden, bin ich nicht im Film. Wenn ich auf einem Konzert Appetit verspüre oder Lust auf eine Zigarette, bin ich nicht in den Liedern. Hier in Köln erliege ich gleich beiden Gelüsten. Die Lanxess Arena ist ein hochgradig professioneller Vergnügungstempel. Läuft das Konzert, werden viele der zahlreichen Bewirtungsstationen geschlossen, sicher aus Kostengründen. Effizienz und so. Das Bier ist teuer, das Essensangebot unzeitgemäß fleischlastig. Auf meiner Suche nach Nahrung pflanzlichen Ursprungs werde ich Zeuge einer wie ich finde interessanten Begebenheit. Ein nicht mehr ganz junger Mann, wasserstoffblonde Strubbelhaare, schwarz gekleidet, diskutiert recht hitzig mit einer jungen, hübschen Merch-Verkäuferin. Worum es geht, ich weiß es nicht, aber als der Strubbel sich entfernt ruft er der Verkäuferin zu, wir müssten alle wieder in den Achtziger-Flow zurückkommen. Die Verkäuferin lächelt gekünzelt, und ihre Augen verraten, sie hat keine Ahnung, was der Scheiß bedeuten soll. Ich wohl. Im Raucherbereich erzählt mir wer, er möchte unbedingt „One Hundred Years“ hören, während die Band drinnen den Song spielt. Mir begegnet eine große Gruppe, mit schwarzen Karnevalsperücken und verschmierter Schminke als Robert Smith verkleidet. Ich gehe zurück in den Saal und warte auf das Ende. Das Ende des Konzertes. The Cure als Silhouetten im kalten weißen Gegenlicht, vom Kunstnebel verschluckt, die Lieder in endlos ausufernden Liveversion; obwohl ich lieber nach vorne schaue als zurück, komme ich dafür wohl zu spät. „And let’s move to the beat like we know that it’s over”.
Es kann ja jeder machen, was ich will, doch als Faustregel: Wenn ich in die Oper gehe, trage ich einen Anzug. Wenn ich zum Sport gehe, trage ich eine Jogginghose. Nie andersherum. Wie gesagt, The Cure waren fantastisch. Ich könnte schwören, die alten Kumpels meines Bruders waren heute auch da.
The Cure – A Forest (Live in Japan 1984)